(Aloys Schreiber: ,,Sagen aus den Rheingegenden..“ 1848)
Im Elsenzgau, bei den Ruinen der Burg Steinsberg, zieht sich eine Niederung hin, die man den ..alten See“ nennt. Schlanke Silberpappeln erheben sich auf dem erhöhten Ufer des ehemaligen Wasserbettes, dessen Griünde jetzt durch frisches Grün und bunte Blumen eine Augenweide sind. Auf dem Steinsberg soll einst ein greulicher Recke gehaust haben, der ein Schrecken fiir die ganze Gegend war. Er beraubte die harmlosen Wanderer, trieb den Hirten ihre Herden weg, und fiel zuweilen ein hübsches Mädchen in seine Hinde, so wurde es auf seine fast unzugängliche Burg geschleppt. Eines Tages zog er an einer Kapelle vorüber, die, von Linden umgeben, am Ufer des Sees stand, und gewahrte dort eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit. Vor dem Altar kniend verrichtete sie inbrünstig ihr Dankgebet zum Himmel, der ihre Mutter von einer schweren Krankheit hatte genesen lassen. Der Ritter entbrannte augenblicklich in schnöde Lust, riß die Betende vom Altar weg und wollte sie schon, ihres Flehens und ihrer Tränen ungeachtet, auf sein Pferd heben, um mit ihr davon zu jagen auf sein Felsennest, als sie die Bitte wagte, ihr nur noch ein kurzes Gebet in der Kapelle zu gestatten. Wenn auch ungern, so willigte der Räuber endlich doch ein. Nun warf sich die Jungfrau vor dem Muttergottesbilde nieder und rief mit der Stimme der Verzweiflung: ,,0 du Reine und Unbefleckte, nimm mich rein und fleckenlos zu dir!“ Nach diesen Worten raffte sie sich auf, eilte aus dem Kirchlein, huschte an dem Recken vorüber und stürzte sich in den See. Aber die Fluten wurden ihr nicht zum Grabe; wie von unsichtbaren Händen getragen, schwebte sie darüber hin zum jenseitigen Gestade. In blinder Wut will der Räuber ihr nachstürmen, aber die Wasser schlagen über seinem Haupte zusammen und des Abgrunds Geistes reißen ihn hinab in ihr finsteres Reich. Noch jetzt hört der einsame Wanderer manchmal im Dunkel der Nacht dumpfe, weh stöhnende Laute aus dem See; geheimnisvoll rauschen und flüstern die Zitterpappeln und erfüllen das Herz mit Grauen.